Wissensorte. Eine Publikation als Ausstellung
Herausgeber: Master of Arts in Transdisziplinarität, Zürcher Hochschule der Künste
ISBN: 978-3-9524741-6-7 PDF
Zusammen mit der Bibliothek gehört das Labor zu den Wissensorten schlechthin: am einen Ort wird Wissen aufbewahrt und zugänglich gemacht, am anderen hergestellt. Im Unterschied zu Bibliotheken sind Labors aber nicht auf Öffentlichkeit und Niederschwelligkeit ausgelegt, sie sind eher unzugänglich. Dass dies nicht unbedingt so sein müsste und dass es vielleicht besser wäre, wenn auch die Labors offener und leichter zugänglich wären, ist eines der Themen, die den Ethiker Ralf Stutzki umtreiben. Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten National Centre of Competence in Research Molecular Systems Engineering (NCCR MSE) hat er in den vergangenen Jahren das Kollaborationsformat Art of Molecule initiiert, das einen Begegnungsraum für Künste und Wissenschaften schaffen möchte mit dem Ziel, Kommunikationsbrücken für Künstler_innen und Wissenschaftler_innen zu bauen. Jana Thierfelder, Assistentin im Master Transdisziplinarität der Zürcher Hochschule der Künste, traf Ralf Stutzki im Rahmen einer Kollaborationsveranstaltung zum Gespräch.
RS: Eigentlich habe ich damit gar nicht begonnen, das hat sich eher aufgrund der Interessenslage Einzelner so ergeben. Künstler im Labor (Artist residencies) sind ja nichts Neues, das gibt es bereits seit einiger Zeit. Meine Idee war vielmehr, Künstler mit Naturwissenschaftlern zusammenzubringen, den Kontakt und Austausch untereinander zu ermöglichen. Ohne irgendwelche Vorgaben. Einfach mal die Tür aufmachen und schauen, ob da jemand durchgeht. Und es war von Anfang an zweigleisig geplant: es sollte die Möglichkeit bestehen, dass Künstler Wissenschaftlerinnen und dass Wissenschaftler Künstlerinnen begegnen. Also: wenn wir unsere Labore öffnen, dann öffnet bitte auch eure Ateliers.
Mich interessiert, dass hier gewissermassen zwei homogene, in sich geschlossene Gruppen (wovon die Naturwissenschaftler zweifelsohne die deutlich geschlossenere Gruppe darstellen) die Möglichkeit haben, ihre Insel der Glückseligkeit zu verlassen, um aufeinander zuzugehen. Gewissermassen wie bei einem Blind Date. Aber auch das gab es ja bereits: in Wien, zur Zeit der sogenannten Wiener Moderne und Wiener Schule war es gang und gäbe, dass sich Wissenschaftler unterschiedlichster Fachgebiete mit den Intellektuellen und Künstlern ihrer Zeit trafen und austauschten: Oskar Kokoschka, Egon Schiele, Sigmund Freud, Arnold Schönberg, Emil und Bertha Zuckerkandl, Max Reinhardt, Ludwig Wittgenstein: all diese Meisterinnen und Meister ihres Fachs kannten sich untereinander und trafen sich regelmässig zum Austausch und Plaudern im Wien des sich zu Ende neigenden 19. Jahrhunderts. Man besuchte sich gegenseitig – im Hörsaal, im Atelier, daheim im Salon; das prägte den Begriff des Salonierens, ja vielmehr noch prägte es die Weiterentwicklung der eigenen Ideen sowie der Methodik des eigenen Schaffens.
Ein Beispiel: Gustav Klimt hätte nicht die unglaubliche Malerei hervorgebracht, wie wir sie heute international schätzen, hätte er nicht Tage und Wochen im Anatomiesaal des seinerzeit weltberühmten und von ihm hochverehrten Emil Zuckerkandl verbracht und ihm bei der Arbeit des Sezierens zugeschaut; ganz zu schweigen von dem enormen Einfluss, den Bertha Zuckerkandl, die Ehefrau von Emil, auf die Entwicklung des transdisziplinären Wiener Dialogs ausübte, indem sie das gemeinsame Haus für alle Interessierten zu Salongesprächen öffnete.
Der Austausch zwischen den Künsten und den Wissenschaften hat eine sehr lange und für beide «Seiten» höchst ergiebige Tradition. Die tiefe Freundschaft zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller hat nicht im Museum oder im Theater ihren Anfang genommen – beide begegneten sich das erste Mal 1794 auf einer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena. Goethes Faust ohne Wissenschaftskenntnis? Völlig undenkbar. Oder Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen. Es gibt unzählige Beispiele, nicht nur aus der Literatur.
Ich möchte diesen Kommunikationskanal, diese Brücke zum Austausch wieder ein wenig neu beleben. Gerade in den Naturwissenschaften – das trifft ganz sicher auf unser nationales Forschungsprojekt Molecular Systems Engineering zu – hat in den letzten Jahren eine derartige Spezialisierung stattgefunden, dass selbst innerhalb der einzelnen Disziplinen eine Kommunikation untereinander ausserordentlich kompliziert geworden ist. Das gilt dann umso mehr für den interdisziplinären Dialog und erst recht – da kommt eine zentrale Aufgabe der Ethik ins Spiel – für den so dringend notwendigen Diskurs zwischen dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm und der Öffentlichkeit.
Wir dürfen nicht vergessen: die Naturwissenschaften, die Universitäten und viele Forschungseinrichtungen – sie sind geortet und verwurzelt inmitten der Gesellschaft, die sie nicht nur umgibt, sondern auch zu grossen Teilen finanziert. Das ist ein zentraler Knackpunkt. Deshalb sehe ich bei Art of Molecule die Rolle der Künstler auch zunächst erst mal als die einer Gruppe von nichtwissenschaftlichen, interessierten Gesellschaftsvertretern. Die Künstlerin ist Bürgerin, der Wissenschaftler ist Bürger. Also gehen hier zwei Gesellschaftsgruppen aufeinander zu und eröffnen das Gespräch. Natürlich ist es reizvoll, dass die Kunst über eine so grosse Vielfalt an Kommunikationsmöglichkeiten verfügt und die Diskussion mit uns auf ganz vielfache Art und Weise und auf vielen Ebenen führen kann. Es geht aber dabei eben nicht darum, dass am Ende konkrete Kunstwerke aus dieser Beziehung entstehen – natürlich ist es spannend, wenn das passiert, aber es ist nicht das Ziel.
Ziel von Art of Molecule ist das Zusammenführen von Gruppen, die nicht (mehr) miteinander kommunizieren und die im Prozess der Begegnung möglicherweise feststellen, dass diese Nichtkommunikation nicht ein Zeichen von Kompetenz und Stärke, sondern von Mangel und Armut ist. Das gilt übrigens für alle Beteiligten. Erst im Miteinander werden das eigene Sein und das Erkennen des eigenen Potenzials möglich. Diese Deutungsweise vertritt die dialogische Philosophie schon seit mehr als 2000 Jahren: «Der Mensch wird am Du zum Ich», hat es der Religionsphilosoph Martin Buber einmal treffend formuliert.
Also, noch einmal – was ich ändern möchte? Ich möchte gerne dazu beitragen, dass wir eine Brücke über den tiefen Graben unserer Sprachlosigkeit bauen und uns dann von den daraus entstehenden neuen Möglichkeiten überraschen lassen.
Ich glaube beides trifft zu, allerdings wohl nicht so sehr in Bezug auf die künstlerische Arbeit, sondern auf den Künstler als Person und rationales, zur moralischen Entscheidungsfindung befähigtes Wesen. Es ist der ‚Bürger Künstler’, der mittels seines Schaffens genau wie der ‚Bürger Wissenschaftler’ (und alle anderen Menschen da draussen) ethische Herausforderungen benennt, verursacht und auch zu deren Lösung beitragen kann.
Was ist eure grösste Herausforderung am NCCR MSE, der ihr euch stellen müsst, wo Kunst möglicherweise hilfreich sein könnte?
Zunächst einmal teilen wir ja viele Herausforderungen: der Alltag fordert uns ganz ähnlich. Stress, knappe Budgets und Zeitnot kennen wir ja wohl alle, und ich sehe da keine Entkrampfung am Horizont, die zu einer Neuausrichtung unserer Lebensqualität führen könnte, eher das Gegenteil. Und dann ist da für mich auch immer noch die Frage, inwieweit die – ich nenne das mal – «Beseelung» unserer Arbeit tatsächlich noch authentisch ist und nicht einfach lediglich als ausgehöhltes Konzept missbraucht wird, um in das Korsett von Vorgaben und professionellen Zielsetzungen mit Zwang hineingeschnürt zu werden.
Aber konkret zu Deiner Frage: ich wüsste eigentlich keinen Bereich meines Lebens und keinen Bereich unseres NCCR MSE Forschungsprojekts, in dem Kunst nicht hilfreich sein könnte. Die kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit den Fragestellungen der synthetischen Biologie beispielsweise kann unmöglich jemals falsch sein, genauso, wie diese Auseinandersetzung mit Blick auf künstlerisches Schaffen niemals sinnlos sein kann. Allerdings: es kostet Zeit und Mühe, benötigt also eine Bereitschaft des Aufeinander-Zugehens. Und dafür muss ich ab und an auch mal mein «Besteck» auf die Seite legen, um in den Diskurs eintreten zu können.
Das würde ich so nicht sagen. Zum einen kann ich gar nicht beurteilen, was künstlerische Arbeiten im Einzelnen bewirken – ich kann hier höchstens von der Wirkung auf mich persönlich reden, sofern sie denn überhaupt jeweils eintritt. Ich denke, die Künste können mit ihren interpretatorischen Fähigkeiten im Hinblick auf die Naturwissenschaften ja ein ganzes Universum an Sicht-, Denk- und Spürweisen schaffen – sie können transparent und sichtbar machen, aber genauso gut können sie auch verdecken und in die Irre führen.
Einen alleinigen Wahrheitsanspruch kann ein einzelnes Werk nicht beanspruchen. Das wäre dann wohl zu einfach. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinter den Ergebnissen ihrer Forschung, speziell in der Publikation, bewusst unsichtbar machen. In Zeiten von «publish or perish» zählt nun mal der Akkordoutput von bedeutenden oder weniger bedeutenden Ergebnissen und nicht so sehr die hinter dem Autorenteam stehenden Biographien.
Gewissermassen stehen wir heute und hier an einer Art Erkenntnis-Fliessband, und es wäre in der Tat überlegenswert, einmal auf den roten Knopf zu hauen und den ganzen Zirkus anzuhalten. Innehalten, neuorientieren, neupositionieren und neuaufstellen – das halte ich für durchaus überlegenswert, auch wenn ich jetzt schon den Protest und die Gegenargumente höre. Aber man wird ja wohl auch mal träumen dürfen, das ist übrigens auch eine wichtige Aufgabe der Ethik… Genau wie sie dafür verantwortlich ist, praktikable Rahmenbedingungen als Grundvoraussetzung für alle im Diskurs Involvierten zu schaffen. Es macht doch zunächst einmal überhaupt keinen Sinn, wenn ich beispielsweise als Ethiker des NCCR-MSE eine Bewertung der ethischen Herausforderungen der synthetischen Biologie von der Öffentlichkeit einfordere, ohne dass beispielsweise die Begrifflichkeiten und Zielsetzungen geklärt und erklärt werden.
Anders ausgedrückt: ethisch reflektieren geht doch erst, nachdem Verständnis, Erkenntnisfähigkeit und sprachlicher Zugang entstehen – und zwar bei allen Beteiligten. Will sagen: nur auf Augenhöhe und bei gleicher Gewichtung jeder Stimme kann dieser Prozess in Gang gesetzt werden. Aber gerade hier zeigen sich auch Defizite auf Seiten der Forschenden. Es geht nämlich nicht nur darum, der interessierten, nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit einen gewissen Diskussionsrahmen zu ermöglichen (so wichtig das auch ist); gerade auch die Wissenschaftler, insbesondere die jüngeren, müssen in die Kunst der Wissenschaftskommunikation eingeführt werden. Das verständliche Erzählen und Berichten über naturwissenschaftliche Vorgänge und Erkenntnisse ist unverzichtbar und wurde viel zu lang vernachlässigt.
Gerade hier muss die Ethik ansetzen: die Geschichten, die in jeder Forschungsidee, in jedem Forschungsvorhaben zweifelsohne vorhanden sind, müssen mittels narrativer Elemente, mittels der Gattung ‚Erzählung’ sichtbar, spürbar, hörbar und für «alle da draussen» verständlich gemacht werden. Der Mensch war schon immer ein Geschichtenerzähler – gerade in den hochkomplexen, zunehmend technologieorientierten Naturwissenschaften wären wir gut beraten, uns darauf erneut zu besinnen.
In solchen Kooperationen kommt meiner Meinung nach den Künsten eine ganz radikale Rolle zu: denn sie darf, was sie (tun) muss. Und das bedeutet, dass sie eben nicht tolle Bildchen, nette Melodien oder schön anzusehende Skulpturen produziert, um beispielsweise die Layout- oder Agenturkosten der Wissenschaftler zu sparen. Kunst muss fordern, herausfordern, interpretieren, hinterfragen, kritisierten und falls nötig auch mal den Weg versperren. Sie ist zweifellos in der Lage, Forschung mitzugestalten. Was spricht denn dagegen, wenn beispielsweise ein Wissenschaftler sich Elemente künstlerischer Methodik aneignet, diese in seinen Arbeitsabläufen implementiert und hierdurch möglicherweise in ungeahnte Gebiete vorstösst?
Erfolg kommt selten geradlinig. So laden wir von Zeit zu Zeit etwa unsere Führungskräfte dazu ein, den Blick über den Labor–Tellerrand zu wagen und damit auch die eigene Arbeitsweise zu hinterfragen. Bei unserem Workshop «Die Maestro-Methode» nehmen wir zum Beispiel an den Proben des Argovia Philharmonic Orchestra teil, um daran anschliessend mit dem Chefdirigenten Douglas Bostock zu diskutieren, welche Methoden und Werkzeuge er einsetzt, um einen siebzigköpfigen Klangkörper erfolgreich in die von ihm für richtig empfundene Klangrichtung zu bewegen, um dann im Konzert das Publikum zu berühren. Kommt am Ende der Proben genau das heraus, was er ursprünglich hören wollte? Oder haben die Eigenleistungen des Orchesters und jedes einzelnen Musikers mit dazu beigetragen, den ursprünglich avisierten Klang zu perfektionieren oder sogar in eine neue Dimension vorzustossen? All das sind spannende Fragestellungen, denen sich meiner Meinung nach auch akademische Führungskräfte öfters stellen sollten. Auch das ist für mich – ganz praktisch – angewandte Ethik.
Ja, ganz sicher. Perspektive bedeutet für mich Bereicherung und gleichzeitig auch eine Infragestellung. Und durch die Kooperation wird eben auch die Kommunikationsmöglichkeit erweitert und bereichert, indem Kunst etwa ihr Interaktionspotential anwendet.
Ich bin davon überzeugt, dass die Öffnung nach aussen hin für alle Beteiligten eine Weiterentwicklung der eigenen Möglichkeiten bedeuten kann. Insbesondere den Naturwissenschaftlern fehlt meiner Ansicht nach noch häufig die regelmässige geisteswissenschaftlich fundierte Reflexion ihrer Arbeit. Ähnlich wie bei den «Humanities»-Studiengängen, wie sie beispielsweise in den USA angeboten werden, kann die von uns angedachte Öffnung persönlich und professionell zu einer Bereicherung werden. Und sicherlich ist auch das Eintauchen einer Künstlerin in den Arbeitsalltag eines Wissenschaftlers im Labor mehr als nur inspirierend; es kann und soll den Einzelnen auch daran erinnern, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Forschungsprojekten unserer Zeit ist.
Jetzt begebe ich mich wohl endgültig auf ganz dünnes Eis. Erst vor kurzem habe ich einige neu eingerichtete Labore besucht. Ganz ehrlich – ich habe noch nie Räumlichkeiten gesehen, in denen ich mich lieber und auf der Stelle hätte operieren lassen wollen. Soviel zum Thema Ästhetik. Natürlich sind diese neuen Labore auf höchsten Standard, state of the art. Wenn ich ein wissenschaftliches Experiment wäre, würde ich vermutlich vor Dankbarkeit platzen. Aber ich bin nun mal kein Experiment. Meiner Meinung nach kommt die Ästhetik im Bereich der Innenausstattung unserer Labore, aber auch insgesamt auf dem Gebiet der Wissenschaftsarchitektur, schlechterdings viel zu kurz.
So wie heutzutage teilweise gebaut und eingerichtet wird, ist es zwar dem Zwecke dienlich, aber der Kreativität, die doch unbestreitbar auch ein ganz entscheidender Impulsgeber im Prozess der wissenschaftlichen Arbeit ist, hinderlich. Es spricht doch nichts dagegen, dass ich mich an meinem Arbeitsplatz wohlfühle, oder täusche ich mich da? Wenn ich mir anschaue, wie der Anspruch auf Quadratmeter-Büroraum mit gestaffelter Ausstattungsoption den einzelnen Arbeitskräften im Wissenschaftssektor gemäss «Verordnung XYZ Absatz 1» an einigen akademischen Einrichtungen geregelt wird, dann bekommt die Genomanalyse, nach der der Mensch rund sechzig Prozent Huhn ist, für mich eine völlig neue Bedeutung. Auch in diesen Fragen, also bezogen auf die Arbeitsraumästhetik, könnte die Kunst beherzt eingreifen und mitentwickeln. Warum sollten wir sie nicht schon bei der Planung mit einbeziehen?
Und noch etwas: warum müssen die Naturwissenschaften immer häufiger nach aussen, an den Rand der Uni oder Stadt, ausgelagert werden? Manchmal sogar – wie in unserem Fall in Basel – hineingebaut in stark gesicherte, umzäunte Areale, die einem eher das Gefühl einer Erlebniswelt JVA vermitteln als die Bereitschaft nach aussen hin signalisieren, dass wir an dem gebotenen konstruktiven Austausch und an Gesprächen interessiert sind.
Ich glaube, diese Neugier entsteht erst dort, wo der gemeinsame Austausch begonnen hat. Das ist jedenfalls meine Erfahrung nach zwei Jahren Art of Molecule. Bei den ersten Begegnungen hatte ich – übrigens auf beiden Seiten – eher ein vorsichtiges, teilweise unsicheres gegenseitiges Abtasten festgestellt. Was ja auch verständlich ist.
Beide Gruppen kommen aus zum Teil vollkommen anderen «Welten» mit unterschiedlichen Sprachen und Symbolen. Da ist es durchaus verständlich, dass man sich unsicher fühlt, weil man sich auf der anderen Seite nicht auskennt. Aber eben diese Begegnungen untereinander, die Gespräche miteinander, das «Salonieren» führt dazu, dass gewisse Ängste und Vorbehalte abgelegt werden können. Und dann stellt man hier und da in der Tat fest, dass man nicht so weit voneinander entfernt ist, wie man ursprünglich geglaubt hat. Dann wird der Besuch der Wissenschaftlerin im Atelier des Künstlers mit entsprechender Information über die Abläufe vor Ort zu einem Exempel, welches man hier und da auch in den Laboralltag übertragen kann. Und ähnlich funktioniert es andersherum.
Noch etwas ist hier ganz wichtig: es geht uns ja nicht nur um die Vor-Ort-Besuche bei den anderen, so wichtig sie auch sind. Viel zielführender und gewinnbringender ist es meiner Ansicht nach, wenn sich die Einzelnen und die Gruppen untereinander auch ausserhalb unserer Meetings vernetzen und sich auch anhand ihrer privaten Interessenslagen näher kommen und austauschen. Ein Drink am Zürichsee oder ein gemeinsames Barbecue am Rhein in Basel erzeugen häufig mehr interdisziplinären Austausch als der Besuch im Atelier oder Labor.
Man muss diese Gemeinsamkeiten gar nicht besonders hervorheben, die gibt es ja auch auf anderen Ebenen. Ausserdem kokettieren beide genannten Gruppen meiner Meinung nach doch ganz gern mit ihrer vermeintlich elitären Sonderstellung in der Gesellschaft, an Selbstbewusstsein mangelt es uns da jedenfalls nicht. Wenn es stimmt, was die dialogische Philosophie behauptet – und davon gehe ich stark aus –, nämlich, dass wir aneinander werden und den anderen brauchen, um uns unserer selbst bewusst zu werden und uns zu finden, dann ist dieser andere überall anzutreffen. Das schliesst gerade die am Rand der Gesellschaft stehenden, die vulnerablen Gruppen mit ein. Und es ist unsere Aufgabe, diesen anderen, wo immer er sich, wo immer sie sich befindet, aufzusuchen und auf Augenhöhe zu begegnen.
Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Schaffen genau wie es Gemeinsamkeiten zwischen beispielsweise dem Handwerk und dem akademischen Schaffen gibt. Deshalb sehe ich auch unser Projekt, nämlich die Zusammenarbeit zwischen Künstlerinnen und Wissenschaftlern als ein Beispiel, eine Möglichkeit von vielen.
Für ein Forschungsprojekt mit derart ambitionierten Zielen wie unser NCCR MSE, welches sich gerade auch im medizintechnologischen Bereich in Zukunft erheblich auf die Lebensqualität und auf unser Verständnis von Persönlichkeitskonzepten auswirken wird, ist verpflichtet, die Tür zu allen Gesellschaftsgruppen – erst recht zu den Schwächsten unter uns – zu öffnen und den Dialog mit ihnen zu beginnen. Das ist natürlich aufwändig und mühsam, das kostet Zeit, Kraft und Geld. Der niederländische Chemienobelpreisträger Ben L. Feringa hat unlängst in Basel in einem ganz ähnlichen Kontext gesagt, die Naturwissenschaftler sollten häufiger ihre «Komfortzonen» verlassen. Dem stimme ich absolut zu und möchte ergänzen: gerade mit Blick auf den wissenschaftlichen Nachwuchs sollten wir darauf bedacht sein, zukünftig erst gar keine dieser Komfortzonen mehr zuzulassen. Art of Molecule ist hoffentlich ein kleiner Beitrag und ein erster Schritt in diese Richtung.